Allem WM-Fieber zum Trotz: Dem österreichischen Skisport mangelt es heute schon an Nachwuchs mit Siegerqualitäten.
Von Gerd Millmann
DIE ZEIT Nr. 8/2013 vom 14. Februar 2013
Nach einer Woche fiel die fähnchenschwingende Begeisterung bei der Heim-WM der österreichischen Skihelden in Schladming nur mehr schlapp aus. Grund zum Jubel gab es keinen. »Mit einem Abfahrtsgold bei den Männern wär die WM-Bilanz gerettet«, erklärte Olympiasieger Franz Klammer der Süddeutschen Zeitung, noch kurz bevor die patriotischen Erwartungen neuerlich enttäuscht wurden: geschlagen die Abfahrer, abgeschlagen ihre Kolleginnen aus dem Damenteam. Nun sollen wenigstens die Techniker die Würde der Skination bei den alpinen Weihespielen retten – vielleicht zum letzten Mal. Denn die Zukunftsperspektiven für österreichische Siegläufer sind eingetrübt, neue Stars derzeit nicht in Sicht.
Wie gering die Aussichten auch auf längere Sicht sind, das könnte sich schon nächste Woche zeigen, wenn im kanadischen Quebec die Weltmeisterschaften der 15 bis 20 Jahre alten Junioren ausgetragen werden. Noch vor wenigen Jahren dominierten Athleten aus Österreich diese Nachwuchswettbewerbe souverän. Im Jahr 2000 stellte das rot-weiß-rote Team sogar einen Allzeitrekord von dreizehn Medaillen auf. In diesem Jahr ist der erste Platz in der Nationenwertung allerdings illusionär. Bereits bei den Junioren-Weltmeisterschaften von 2009 bis 2012 dümpelten die Zukunftshoffnungen des Österreichischen Skiverbandes (ÖSV) zwischen den Rängen drei und sieben herum. Der Nachwuchs hat den Kontakt zur Weltspitze verloren. Österreichs zentraler Sportart gehen die Sieger aus.
»Wenn man ehrlich ist: Die Fähigkeiten und das Potenzial unserer Schüler sind schon spürbar geringer als früher«, gesteht Arno Staudacher, Direktor des Schigymnasiums Stams: »Das ist natürlich nicht wissenschaftlich überprüft, aber meine persönliche Erfahrung der letzten Jahre.« Der Leiter der weltweit erfolgreichsten Kaderschmiede des Skisports hat sich ein fundiertes Wissen über Jugendsport erarbeitet. Der 52-jährige Tiroler war selbst Skiathlet, studierte Sport an der Universität Innsbruck und war zwischen 1987 und 2010 auch für den ÖSV-Nachwuchs verantwortlich.
Mehr als 150 Medaillen haben die Absolventen der Sportakademie im Oberinntal bislang bei Weltmeisterschaften erkämpft. Marlies Schild, Benjamin Raich, Mario Matt und Manfred Pranger waren die letzten Alpinweltmeister aus Stams. Sie stehen noch im aktuellen Aufgebot und verkörpern die prekäre Situation des ÖSV: Alle sind zwischen 31 und 35 Jahre alt und haben ihren sportlichen Zenit bereits überschritten. Hinter dem 23-jährigen Marcel Hirscher, dem derzeit Führenden im Gesamtweltcup, lauern in der Weltcupwertung keine hungrigen Jungstars, sondern eine Riege altgedienter Läufer.
»Das ist eine logische Entwicklung der letzten Jahre«, meint der Sporthistoriker Rudolf Müllner von der Universität Wien. »Dass ein Kind nur in einer bestimmten Sportart – nämlich Skifahren – sozialisiert wird, das wird es künftig in dieser Breite nicht mehr geben.« Der MTV-Generation würden sich viel mehr sportliche Alternativen als früher anbieten. Zahlreiche Trendsportarten buhlen um die Begeisterung junger Leute, und dadurch wird der Pool an Talenten immer kleiner.
Skifahren gehört zum Selbstverständnis des Homo austriacus
Stams-Direktor Staudacher kann die Auswirkungen dieser Entwicklung in Zahlen fassen. Waren es vor zehn Jahren noch 80 bis 100 Jugendliche pro Jahr, die sich an seiner Schule bewarben, so melden sich heute nur noch 55 bis 65 Mädchen und Burschen für die 25-köpfige Anfängerklasse an. Ob es am Finanziellen liegt? Für Schule und Internat sind 5.000 Euro im Jahr zu zahlen, dazu kommen Ausrüstung und die Finanzierung der Unterkünfte bei internationalen Skirennen. »Ein Sechzehnjähriger kann die Eltern so etwa 10.000 Euro pro Saison kosten«, schätzt Staudacher. Das schrecke manche Familienerhalter ab, doch Heimhilfe, Fahrtenzuschüsse und ein eigener Fonds würden dafür sorgen, betont der Direktor, »dass kein einziges Talent aus finanziellen Gründen auf der Strecke bleiben muss«.
Sogar in Tirol soll es Kinder geben, die noch nie im Leben Ski gefahren sind
Der negative Trend, meint Staudacher, sei vielmehr auch auf massive Defizite in der körperlichen Fitness der Kinder zurückzuführen. »Burschen wie den Marcel Hirscher, der bis zum zehnten Lebensjahr auf der Alm aufgewachsen ist, die gibt es ja nur noch selten. Den meisten Kindern fehlen heute die nötigen motorischen Fähigkeiten. Ich selbst bin ja auch im Winter noch mit dem Rad zum Skitraining gefahren, heute werden die Kinder mit dem Auto hingeführt«, klagt der Pädagoge – und fügt mit echtem Entsetzen hinzu: »Ich habe sogar einen Bekannten, dessen Kinder sind acht und neun Jahre alt, aber noch niemals Ski gefahren. Und das in Tirol!«
Sollten eines nahen Tages Österreich die Weltmeisteranwärter in der staatstragenden Sportdisziplin ausgehen, »würde eine Welt zusammenbrechen«, glaubt der Wiener Sportsoziologe Otmar Weiss. »Der Skisport ist ja von nationaler Bedeutung.« Er ist weit mehr als bloße Körperertüchtigung: ein österreichisches Markenzeichen. Legendäre Skistars der Vergangenheit hatten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten maßgeblich dazu beigetragen, die österreichische Identität zu prägen und das Selbstbewusstsein der Bevölkerung wiederaufzurichten. »Skifahren gehört zum Selbstverständnis des Homo austriacus, gewinnen wir nicht mehr, dann wird alles unternommen, um das zu ändern. Alles!«, ist sich der Leiter der Abteilung für Sportsoziologie an der Universität Wien sicher.
Peter Schröcksnadel, 71-jähriger Präsident des ÖSV mit Hang zum Majestätischen, hat das Problem des fehlenden Nachwuchses erkannt, auch wenn er es gern kleinredet. Mehr gesponserte Schulskikurse, leistbare finanzielle Angebote für Familien und die Expansion der alpinen Betätigung in urbane Bereiche, so lauten seine Lösungsansätze: »Wenn die Skifahrer nicht zu uns kommen, kommt eben der Skisport in die Stadt.« Sogar ein Skirennen vom Gloriettehügel im Schlosspark von Schönbrunn schwebt dem Visionär vor.
Vor dreißig Jahren nahmen noch jeden Winter 250.000 Schüler an den damals verpflichtenden Schulskikursen teil. Heute erfolgt diese Einführung in die Welt der Nationalsportart nur mehr auf freiwilliger Basis, lediglich 150.000 Jugendliche zieht das pädagogische Ertüchtigungsprogramm an. »Ich fahre heuer wahrscheinlich zum letzten Mal auf Skikurs«, meint der Wiener Hauptschullehrer Simon Zimmerle: »Immer weniger Schüler wollen teilnehmen, und den meisten Kindern aus Zuwandererfamilien ist die Kultur des Skifahrens ohnehin fremd.« Tatsächlich verschwendeten ÖSV-Funktionäre nur selten Gedanken daran, unter Migranten für den Skisport zu werben. Man setzte stets exklusiv auf Nachwuchs aus der eigenen Alpinjugend.
Skisports als sinnstiftendes Nationalsymbol
Skikönig Schröcksnadel befehligt einen unbeirrt arbeitenden Riesenapparat, dessen zentrale Aufgabe es ist, möglichst viele Skistars auf die Rennpisten zu schicken. Hunderte Skivereine, Skischulen und Skikader sollen unter massiver finanzieller Mithilfe der Steuerzahler die Sieger von morgen hervorbringen. Auf 170 Millionen Euro wird die Förderung aus öffentlichen Mitteln für den Nachwuchs geschätzt. Eine genau Aufstellung der unterschiedlichen Subventionsquellen in dieser nationalen Kraftanstrengung gibt es nicht. Allein die Bundesförderung ist derart aufgesplittert, dass sich eine Gesamtsumme nicht feststellen lässt. »Der ÖSV ist privilegiert, hier wird am meisten an Subventionen und Sponsorengelder hineingesteckt«, sagt Sportsoziologe Weiss. Solange sich Erfolge im Überfluss einstellen, werden auch keine Fragen gestellt. Vorläufig garantiert noch das neue Sportförderungsgesetz, das sich derzeit in Begutachtung befindet, den Skiathleten die Fortsetzung der großzügigen Unterstützung.
Fatal wird es allerdings, wenn die Jubelresultate ausbleiben. Dann werden wohl die Diskussionen darüber nicht mehr lange auf sich warten lassen, wie sinnvoll das kostspielige System insgesamt ist. Im Vergleich zu den meisten übrigen Sportarten wird der alpine Skilauf ohnehin massiv bevorzugt. Obwohl Spitzenathleten mit Werbeverträgen üppige Honorare kassieren, übernimmt das Fördersystem die gesamten Kosten, wenn beispielsweise die Nationalhelden in ein Sommertrainingslager nach Neuseeland oder Argentinien düsen.
Insgesamt ist die Dominanz des Skisports als sinnstiftendes Nationalsymbol aber auch von globalen Entwicklungen bedroht. In einer Zeit des Klimawandels und eines verstärkten Umweltbewusstseins ist der moderne Alpinsport alles andere als umweltfreundlich. Aus der einst naturverbundenen Betätigung ist ein Massenritual mit gigantischem technischen Aufwand geworden. Schneekanonen verpulvern wertvolle Ressourcen, Autolawinen wälzen sich in die Wintersportgebiete, komfortable Liftanlagen baggern die Skiläufer in unlängst noch entlegene Gipfelregionen. Die Bedrohung der labilen, hochalpinen Natur macht den Skisport für viele nur schwer mit ihrer persönlichen Ökobilanz vereinbar – auch durch solche Skrupel, meinen Experten, gingen potenzielle Talente verloren.
Selbst wenn bei den letzten WM-Rennen in Schladming noch ein Medaillenregen über die österreichische Equipe niedergehen sollte, auf lange Sicht wird sich die nationale Sportseele auf ein Stimmungstief einstellen müssen. Schon für die Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi sind die Aussichten nicht rosig – und das, nachdem es bereits vor drei Jahren bei den Spielen in Vancouver niemand aus der Herrenmannschaft in die Medaillenränge schaffte. Sporthistoriker Rudolf Müllner will die heraufdräuende Schwächephase im Nationalsport nicht überbewerten: »Natürlich wird die Enttäuschung groß sein, wenn die Skifahrer versagen, aber es hat ja immer ein Auf und Ab gegeben.« Der wissenschaftliche Beobachter erwartet auch nicht, dass selbst bei einer anhaltenden Niederlagenserie Konsequenzen gefordert werden würden: »Es gibt keinen kritischen Sportjournalismus in Österreich. Und schon gar nicht im Bereich des Skisports.«
»Beim Sport bin i immer national und jede Niederlage ist katastrophal«, sang Helmut Qualtinger vor Jahrzehnten in seinem Sportlied: »Wir san a Sportnation, i bin auch ein Teil davon.«
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT, Österreich Ausgabe 8/2013 vom 14. Februar 2013.
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