Im Segelsport dominieren Nationen mit Meereszugang – und Österreich, das in keiner Disziplin mehr olympische Medaillen gewonnen hat. Wie wurde das Binnenland zu einer Macht auf hoher See?

Von Gerd Millmann

Quelle: DIE ZEIT, Österreich-Ausgabe, Nr. 32/2016 vom 28. 7. 2016.

In wenigen Tagen fliegen die besten Segler der Welt am Fuße des Zuckerhuts über die Wellen und kämpfen um olympisches Gold. Kaum jemand vermutet, dass sich viele Favoriten auf diese Regatta im Atlantik auf einem Steppensee im Burgenland vorbereitet haben. Doch hier am Neusiedler See trainiert und wettkämpft die Elite des Segelsports. Im Seebad Neusiedl bespritzen sich an einem heißen Juliwochenende Kinder im kniehohen Wasser, und der böige Wind treibt den Geruch von Sonnencreme über die Wiese. Gleich nebenan herrscht professionelle Aufmerksamkeit. Roland Reglemer, ein drahtiger Vierziger, blickt über den Neusiedler See und sucht ihn nach seinen Athleten ab. »Da hinten erkennt man am Oberflächenkräuseln, dass der Wind um anderthalb Knoten stärker weht als weiter rechts«, sagt er und zeigt in die Weite des Sees, auf dem sich Dutzende kleine Boote mit dem kräftigen Wind messen. Roland Reglemer leitet das Bundesleistungszentrum des Österreichischen Segel-Verbandes in Neusiedl. Er ist selbst mehrmaliger Staatsmeister. Von seinem Büro im ersten Stock aus kann er den halben See überblicken. Dort werfen sich seine Schützlinge gerade rücklings über die Bordkante, um ihre Boote in optimale Lage zu bringen. Nur eine schmale, am Mast befestigte Stahlschnur sichert sie dabei ab.

Österreich ist eine Weltmacht im Segelsport, 43 Medaillen haben die Athleten seit 1960 bei Olympischen Sommerspielen gewonnen, zehn davon im Segelsport. In keiner Disziplin war das Land erfolgreicher. Den Sport dominieren einerseits Länder mit Meereszugang: Frankreich, Großbritannien und die USA – und dann noch Österreich. Wenn am 8. August die erste Olympiawettfahrt in Rio de Janeiro startet, zählen die Teilnehmer aus dem Binnenland wieder zu den Favoriten. Wie kommt das? Eine »nasse Wiese« nennen Spötter gerne das trübe Meer der Wiener im Burgenland, das an seinen tiefsten Stellen 180 Zentimeter seicht ist. Schon oft hat sich der Mast eines gekenterten Bootes in den Schlammboden gebohrt. Trotzdem ist der See bei Spitzenseglern aus aller Welt beliebt. Hier fanden schon Welt- und Europameisterschaften statt. Und von April bis September vergeht kein Wochenende ohne Regatta.

In Österreich gibt es wenig Segelnachwuchs, doch der wird gezielt gefördert »Der Neusiedler See hat Kabbelwellen, die es sonst nirgendwo gibt«, sagt Nico Delle-Karth, »90 Prozent der Seen in Österreich bieten unübersichtliche und chaotische Verhältnisse mit rasch wechselnden Winden. Dadurch haben wir Vorteile, wir sind das gewohnt. In Miami zum Beispiel gibt es an manchen Tagen auch solche Verhältnisse, das nützt uns dann.« Der athletische 32-jährige Tiroler startet in Rio gemeinsam mit seinem Vorschoter Niko Resch, dem Vordermann, der das Boot im Gleichgewicht halten und die Segel bedienen muss. Wie alle Segler ist auch er ständig auf Achse. Bis zu 250 Tage im Jahr verbringt Delle-Karth in allen Weltteilen, um sich neuen Wind-, Wellen- und Strömungsverhältnissen zu stellen.

Roland Reglemer zeigt derweil stolz die Garage des Segelzentrums. In dem fast domhohen Raum werden die Boote samt Mast hineingerollt und überholt. Gerade machen sich zwei Segler an die Überprüfung ihres schwimmenden Boliden. »In meiner aktiven Zeit hat noch ein einziges Boot gereicht, höchstens aber zwei«, erinnert sich Reglemer an die neunziger Jahre. Inzwischen sei alles viel professioneller geworden. Auch in der Athletik. »Tatsächlich sind die schwergewichtigen Vorschoter der Vergangenheit heute durchtrainierten Artisten gewichen«, sagt er. Bei den Siegerehrungen der Starboot-Klasse bangte man früher immer wieder um die Strapazierfähigkeit des Siegertreppchens, wenn die schweren Burschen hinaufkeuchten. Vor allem bei Starkwind bot ein Brocken am Bug wertvolle Tempovorteile. Diese Klasse ist in Rio nicht mehr olympisch. Heute müssen die Athleten ständig um das Gleichgewicht kämpfen, sonst kippt das Boot. Schwere Schränke sind dafür nicht mehr geeignet, es ist ein ständiges filigranes Austarieren.

»Ausrasten geht da gar nicht, dabei bist du oft fünf Stunden am Wasser«, erzählt Thomas Zajac. Der 30-jährige Steuermann der Katamaran-Klasse Nacra 17 und seine Vorschoterin Tanja Frank sind ein heißer Medaillentipp. Die beiden segeln schneller als der Wind. Ihr Geheimnis dahinter ist ein spezielles Steckschwert unter den Rümpfen, das den Bootsrumpf aus dem Wasser hebt und den Widerstand im Wasser minimiert. Bei 15 Knoten Wind zieht das Boot dann mit 18 Knoten übers Meer. Zuweilen hängen die Crews bei 45 Stundenkilometern knapp über dem Wasser im Trapez. Bei der Nacra-17-Klasse sind eine Frau und ein Mann als Team vorgesehen, in zwei Drittel der Teams steuert der Mann, »doch die Arbeit am Vorschot ist vielleicht sogar schwerer als am Ruder«, sagt Zajac.

Und gefährlich. Nach einer unerwarteten Windböe vor Mallorca schleuderte es Tanja Frank im Februar 2013 quer übers Boot: Die linke Hand war gebrochen. Zwei Jahre später crashte das Duo bei einer Regatta in das Boot der US-amerikanischen Konkurrenz.

Segeln ist in Österreich kein breit organisiertes Massenphänomen. Die meisten landen durch Zufall am Wasser. Der Wiener Zajac war als Sohn eines polnischen Olympiaseglers allerdings vorbelastet. »Die Österreicher sind im Jugendalter im internationalen Vergleich gar nicht so gut, bis 15 sind sie selten erfolgreich, dann aber dreht sich das Blatt«, erzählt Wolfgang Mayrhofer. Er gewann 1980 in Moskau eine Silbermedaille und ist heute für die Spitzensportler im Segel-Verband zuständig. Hinter dem österreichischen Segelerfolg stecke ein System des »individualisierten Zentralismus«, sagt Mayrhofer. »Wir haben das Beste von beiden Welten genommen, eine gut funktionierende, zentrale, aber gleichzeitig hochindividuelle Betreuung unserer Segler.«

»Die großen Segelnationen Frankreich, USA oder Großbritannien haben irrsinnig viele junge gute Segler. Wenn einer davon ein, zwei Jahre nicht mithalten kann, ist er weg. Bei uns gibt es nur wenige, die aber werden gefördert, das ist ein gravierender Unterschied«, sagt Zajac. So trainieren auch alle Altersklassen gemeinsam, die wenigen Profis und die Handvoll Nachwuchs.

Eine davon ist Sophia Hageneder. Die 15-jährige Vorarlbergerin hat auf dem Bodensee Segeln gelernt. Mit ihrem gleichaltrigen Vorschoter Simon Eberle reist sie derzeit von Regatta zu Regatta. Die beiden sind Mitglieder des sogenannten Sichtungskaders und wollen einmal »ganz Großes« leisten. »Segeln ist mein Leben«, sagt Hageneder. Der Teenager bevorzugt Starkwind. »Ich liebe es, wenn ich mit dem Wind und den Wellen kämpfen muss, ich mag die Herausforderung, wenn die Elemente zeigen, was sie können.«

Im Wettkampf sind die Sportler auf sich gestellt. Nur Kompass und Uhr sind erlaubt Seit Jahren bereitet sich das österreichische Team mittlerweile auf Olympia vor. »Ich habe ein derart verschmutztes Wasser noch nie gesehen«, erinnert sich Nico Delle-Karth an die ersten Trainingstage in der Guanabara Bay – dem Regattenrevier vor Rio – vor drei Jahren. Inzwischen aber sei die Schaumoberfläche weniger braun und Kontakte mit schwimmenden Kühlschr.nken seien durch die Säuberungsarbeiten der Organisatoren seltener geworden. Eine eigene Meteorologin hat sich mit dem Wetter vor Ort beschäftigt, ein Strömungswissenschaftler die Lage erkundet. Die Herausforderungen sind enorm.

Am Ende sind die Segler aber auf sich gestellt, technische Hilfsmittel sind im Wettkampf fast alle verboten. Es zählen Gefühl und Erfahrung. Erlaubt sind nur Kompass und Uhr, kein GPS, keine Apps, kein Navi.

Schon der Start ist unter diesen Umständen ein Spektakel. Die Boote nähern sich alle zugleich einer fiktiven Startlinie, wer diese aber zu früh überfährt, wird disqualifiziert. Und Segeln ist auch Tarnen und Täuschen. Da wird schon einmal den Mitbewerbern ein neuer Mast absichtsvoll vorgeführt, werden Manöver angedeutet und Haken geschlagen.

Im Fußball haben genaue Aufzeichnungen und Statistiken längst Einzug in das Training gehalten, Laufwege, Geschwindigkeit und Passgenauigkeit werden ausgewertet und analysiert. Ist das auch die Zukunft des Segelsports? Die Antwort ist stets ein Schulterzucken. Möglich, aber zu viele Unwägbarkeiten, kleine Böen, Strömungen und Wetterkapriolen, die sich nicht prognostizieren lassen, spielen bei diesem Sport eine Rolle. Die deutschen Segler versuchen es dennoch. Seit drei Jahren läuft ein Projekt mit dem Technologieriesen SAP. Bei jeder Regatta werden gigantische Datenmengen über Wind, Strömung, Boot oder Segel gesammelt. Der einzige Nachteil laut Leistungszentrums-Chef Reglemer: »Sie können mit diesem Datenwust noch nichts anfangen – bisher zumindest.«

Das größte Problem des olympischen Segelns ist aber der Zusehermangel, die Quoten bei Regatten liegen im unteren Mittelfeld. Wie lässt sich die Attraktivität erhöhen? »Ehrlich gesagt, gar nicht«, sagt Reglemer schulterzuckend. Abhelfen sollen neue Klassen, neue Boote, und derzeit wird auch diskutiert, ob das populäre Kitesurfen ins Olympiaprogramm aufgenommen werden soll. Roland Reglemers Segler sind immer noch weit draußen am See und üben im trüben Wasser Manöver nach Manöver. Vier rot-weiß-rote Teams sind in Rio am Start. Es ist wahrscheinlich, dass die zielstrebigen Tüftler aus Österreich weitere Olympiamedaillen gewinnen. Falls sie nicht doch einen schwimmenden Kühlschrank rammen.

Die Beitrag erschien in der Österreich-Ausgabe der ZEIT, Nr. 32/2016 vom 28. 7. 2016.

Merken