Bei einem Integrationskurs in Wien lernen deutsche Zuwanderer, sich mit den Widrigkeiten des Alltags zurechtzufinden.
Von Gerd Millmann
Erschienen in DIE ZEIT Nr. 6/2012 vom 2. Februar 2012
Wien, dachte die Kleinunternehmerin aus Dortmund, bevor sie von der Ruhr an die Donau zog, das sei ein angenehmer Ort zum Leben. Gemütliche Stadt, freundliche Bewohner, keine Sprachbarrieren. »Da war ich dann völlig erschüttert, als ich hier erstmals mit dem »Piefke« -Image konfrontiert wurde«, sagt sie heute: »Ich ahnte ja gar nicht, dass Österreicher etwas gegen Deutsche haben.« Die Gruppe im Expat Center Vienna am Schmerlingplatz nickt zustimmend. Es ist ein kalter Winterabend, und etwa vier Dutzend Zuwanderer aus Deutschland haben sich eingefunden, um besser zu verstehen, was ihnen da eigentlich widerfährt im deutschsprachigen Nachbarland.
Es ist eine Selbsthilfegruppe, die sich unter der Patronanz der Stadtverwaltung regelmäßig trifft – eine Art anonymer Teutonen, denn Namen dürfen nicht genannt werden bei diesem Integrationskurs. Studierende, Selbstständige, EDV-Spezialisten, Biologen, Arbeitssuchende, ein bunter Haufen unterschiedlichen Alters, der nach Antworten sucht und nach Tipps für das Überleben im österreichischen Alltag. Tatsächlich handelt es sich um das Modul »Deutsche in Österreich «, welches die Magistratsabteilung für Integration im Rahmen ihrer Migrantenbetreuung anbietet.
Das Wiener Idiom sei »ein amorpher Soundbrei«, klagt ein Student
Der rührige deutsche Expat Jockel Weichert war der richtige Ansprechpartner dafür. Der gebürtige Schwabe lebt und arbeitet seit 1999 als Werbefachmann in Wien und rief bereits vor Jahren seine »Piefke«-Connection ins Leben, einen exklusiven Klub, Zutritt ausschließlich für verunsicherte Deutsche: »Wir helfen einander über die Abgründe hinweg, die sich hier zwischen uns und den Wienern auftun.«
Nun moderiert Jockel Weichert den städtischen Integrationskurs. »Die Konfrontation war anfangs ein echter Schock«, erinnert sich eine der anonymen Deutschen bei dem Treffen. Die schlanke Mittdreißigerin mit akkurater Ponyfrisur wirkt noch immer aufgebracht, wenn sie von ihrer ersten Zeit in der Stadt erzählt. Auf eine Mauer der Abneigung sei sie bei den Eingeborenen gestoßen, Anfeindungen und Bosheiten zuhauf. Für die gelernte Apothekerin ist dieser Integrationskurs die erste Möglichkeit, offen über die Kränkungen zu sprechen. Vielleicht bricht es deshalb derart intensiv aus ihr heraus. Auch sie war völlig arglos von Norddeutschland an die Donau gereist. Sie hatte zuvor nichts von einer verbreiteten Abneigung der Österreicher gegen die »Piefkes« gehört. »Allenfalls war ich auf niedliche Frotzelei vorbereitet.«
Sie kommen aus drei Gründen: Liebe, Studium oder Job. 146.000 deutsche Staatsbürger sind derzeit in Österreich hauptgemeldet, das sind doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Jedes Jahr ziehen rund 20.000 neue Zuwanderer aus Deutschland nach Österreich. 32.000 Deutsche leben gegenwärtig in Wien. Viele als Studierende, schließlich gibt es in Österreich im Gegensatz zu Deutschland kaum einen Numerus clausus. Aber auch an der Supermarktkasse, im Servicebüro oder im Fitnesscenter hat sich das deutsche Idiom im Wiener Alltag festgesetzt und stößt häufig auf Ressentiments. Der »Piefke«-Reflex lässt meist nicht lange auf sich warten. Als zahlungskräftige Touristen waren sie stets willkommen. Als Mitbürger werden Deutsche in Wien jedoch oft beargwöhnt, da teilen sie das Schicksal der meisten Zuwanderergruppen.
Die Teilnehmer des Integrationsseminars wollen hauptsächlich herausfinden, wie der »Ösi« so tickt. »Ich will verstehen, warum ich jetzt seit drei Jahren in Wien lebe, aber noch immer mit keinem Wiener näher bekannt bin«, sagt ein soigniert wirkender Hanseate um die 50, der als EDV-Techniker im Job voll integriert ist, aber privat justament keinen Anschluss an die Mehrheitsbevölkerung findet. Seine Landsleute kennen das Phänomen. Die »Ösis« würden im Freundeskreis lieber unter ihresgleichen bleiben und sich absichtsvoll einer Sprache bedienen, die kein Deutscher verstehen könne. »Schlog a Wöll’n, G’schissana«, versucht ein Jus-Student seine leidvollen Erfahrungen mit dem Wiener Zungenschlag mehr schlecht als recht nachzuahmen. Ein »amorpher Soundbrei« sei das, gespickt mit Begriffen, die für deutsche Ohren aus einem exotischen Kulturkreis stammen. »Seidl, Spritzer, Krügerl, Fisolen, das kapiert doch keiner«, empört sich einer aus der Runde. »Oder das Amtsösterreichisch: in Evidenz halten, ein Anbot stellen, nostrifizieren, urgieren, aliquot, retournieren, es ist zum Haareraufen«, ergänzt eine Landsfrau, die als Unternehmerin unter häufigen Behördenkontakten leidet. In der vorletzten Sitzreihe des Seminarraums meldet sich eine schüchterne junge Frau: »Ich komme aus Ungarn , studiere in Wien und bin heute hier, um richtiges Deutsch zu lernen«, gesteht sie in kräftigem magyarischen Akzent. »Heißt das, dass das Deutsch, das in Wien gesprochen wird, gar kein richtiges Deutsch ist?«, will ihr Sitznachbar wissen. Die Ungarin schweigt vornehm, sie will niemanden beleidigen.
Deutsche müssen lernen, dass rechtzeitig nicht pünktlich bedeutet
Einer der Teilnehmer des Integrationskurses hat aus den kulturellen Differenzen zwischen den Nachbarländern ein Geschäftsmodell entwickelt. Er berät deutsche Firmen, die in Österreich Fuß fassen wollen. Vornehmlich sind es mittelständische Unternehmen, die von dem etwas eigenen Pflaster in Wien gehört haben und sich an den bärtigen Mittvierziger wenden. »Wir Deutschen wirken durch unsere direkte Art und klare Kommunikation unhöflich, das wird als extrem autoritär gewertet«, erklärt er den Mentalitätsunterschied: »Die Österreicher lieben unverbindliche Sätze, sie schreiben auch lieber eine E-Mail, als einfach anzurufen.«
Der schmähende Begriff „Piefke“
Der Mann ist zweisprachig. Er kennt seine Pappenheimer diesseits und jenseits des Schnitzeläquators, auch hinsichtlich der unterschiedlichen Zeitauffassung: Pünktlich ist nicht gleich rechtzeitig. Diese Erfahrung machte auch eine Dresdnerin, die heute in der Wiener Magistratsverwaltung tätig ist: »Jetzt weiß ich: Rechtzeitig ist, wenn der wichtigste Punkt der Veranstaltung beginnt. Vorher braucht man gar nicht kommen.«
Schon zum sechsten Mal findet dieser Integrationskurs für Deutsche seit 2010 statt. Im Gegensatz zur Schweiz , wo zwischen Eidgenossen und Deutschen mitunter bereits ein kleiner Kulturkrieg ausgetragen wird, sind es in Wien aber vor allem Petitessen und Alltags-Gehässigkeiten, die den deutschen Zuwanderern die Lebensfreude vergällen. Die entscheidende Frage lautet: Was läuft hier anders, und wie geht man am besten damit um? Dennoch kochen gern die Emotionen hoch, wenn beide Gruppen im sozialen Kontakt aufeinanderprallen. Unverständnis, Gekränktheit und auch Zorn, erzählt Seminarleiter Jockel Weichert, seien die verbreitetsten Reaktionen der Deutschen auf das »Piefke«-Bashing.
Sogar bei Zara , einem Verein für Zivilcourage und Antirassismusarbeit, landeten schon Beschwerden. Etwa als das Wiener Bezirksblatt eine Aktion der Stadt, die den Fernsehkonsum von Jugendlichen reduzieren wollte, mit der gereimten Schlagzeile bewarb: Talente im Bau anstatt Piefke-TV . Es hagelte empörte Anrufe. Den schmähenden Begriff – er geht auf den Militärmusiker Johann Gottfried Piefke zurück, der 1866 nach der Niederlage von Königgrätz die preußische Siegesparade vor den Toren Wiens anführte – empfinden viele Deutsche nach wie vor als persönlichen Affront. »Generell sind aber die rassistischen Diskriminierungen gegenüber Deutschen sowohl im Ausmaß als auch in der Intensität wesentlich geringer als gegenüber anderen Gruppen«, weiß Claudia Schäfer, die Geschäftsführerin von Zara – übrigens aus eigener Erfahrung, sie ist vor ein paar Jahren selbst aus Deutschland zugewandert.
Trotz aller Querelen hat sich die Gruppe der anonymen Deutschen mit der Stadt ihrer Wahl angefreundet. »Wien ist eine wunderbare Stadt mit hoher Lebensqualität, ich bin sehr gerne hier«, bekennt ein drahtiger Student, der an der Wirtschaftsuniversität inskribiert hat. Die überwiegende Mehrheit im Raum teilt seine Meinung. Der Wienerwald sei nah, das Bier »sehr trinkbar, der Wein vorzüglich und die Küche empfehlenswert, vor allem die bürgerliche«. Sollte der Integrationsabend gar versöhnlich enden?
Nein, denn ausgerechnet beim Wiener Kaffee nörgelt ein deutscher Zuwanderer. »Ich bekomme in der ganzen Stadt keinen richtigen Espresso. Wenn ich einen bestelle, kommt ein geschmacksneutrales Geschlabber.« Und das in der Stadt, in der die gehobene Kaffeehauskultur als Markenzeichen gilt. Es sollte aber noch schlimmer kommen. »Wisst ihr, was Córdoba ist?«, fragt ein Mittvierziger in die Runde. In der argentinischen Stadt hatte das österreichische Fußballteam einst die deutsche Elf bei einem Weltmeisterschaftsturnier besiegt. Das war im Jahr 1978. »Tooor, Tooor, Tooor, Tooor, Tooor! I wer narrisch!«, das Triumphgeheul des Radiokommentators nach dem Siegestreffer ist bis heute nationales Kulturgut. Córdoba, das versinnbildlicht deutsche Schmach und ein österreichisches Mirakel auf immerdar.
Und dann das: Die Deutschen kennen Córdoba gar nicht. »Das is‘ ne Stadt in Spanien «, meint die Unternehmerin aus Dortmund zögernd. Sonst fällt keinem etwas zu dem Stichwort ein.
»Dort hat das österreichische Nationalteam angeblich vor vielen Jahren unser Team im Fußball besiegt«, erklärt der Mann schließlich. »Ich habe das auch nicht gewusst, aber das ist den Österreichern extrem wichtig. Da sind sie sehr heikel, weil sie sonst nie gegen uns gewinnen.«
Das notieren sich die Eifrigen unter den Anwesenden. Man will schließlich harmonisch mit den Einheimischen leben, ein gezielt gestreuter Hinweis auf Córdoba kann da in gemütlicher Runde nicht schaden.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT, Österreich Ausgabe 6/2012 vom 2. Februar 2012.
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