Schützen aus Bayern pilgern nach Österreich. Denn hier dürfen sie noch mit Bleikugeln schießen, die das Grundwasser vergiften. In ihrer Heimat ist das längst verboten.
Von Gerd Millmann
Erschienen in DIE ZEIT Nr. 21/2012 vom 16. Mai 2012
Papst Benedikt XVI. kann sich sicher fühlen: Sollte eines Tages die Schweizergarde meutern, stehen immer noch die Tegernseer Gebirgsschützen Gewehr bei Fuß. Das 85-jährige Oberhaupt aller Katholiken ist selbst Mitglied der Traditionsschießgruppe aus Oberbayern. Doch obwohl der Pontifex mit höchster kirchlicher Macht ausgestattet ist, kann er seinen wehrhaften Kameraden am Tegernsee derzeit nur durch Gebete helfen. Ihnen wurde nämlich, von höchst irdischen Kräften, namentlich der bayerischen Landesregierung, das Schießen im Freien verboten.
»Bei uns san ja alle scho komplett deppert. Jetzt müss ma nach Tirol fahr’n, damit ma mit die Karabiner schießen können.« Leutnant Günter Gasteiger ist an und für sich ein besonnener Mann. Aber wenn es um die Störung seines gelieb- ten Brauchtums geht, bebt der silbergraue Schnauzer des Salutzugführers der Gebirgsschützenkompanie. Nicht am Schießplatz unter dem weiß-blauen Bayernhimmel, wie seit Generationen guter Brauch, sondern in unterirdischen Anlagen müsse man nun Kimme und Korn auf die Schießscheiben richten, erbost sich der des 65-Jährige beim Bier im Bräustüberl direkt am See. »Angeblich wegen der Bleibelastung im Boden. So ein Unsinn, als ob das irgendjemanden stört.«
In Tirol stört es tatsächlich niemanden. Seit 2005 fahren die stolzen Gebirgsschützen bewaffnet über die Grenze. Im heiligen Land ist nämlich die Welt noch in Ordnung, keine störenden Umweltauflagen behindern hier das artgerechte Verhalten der Schützen. »9.6.2012: Karabiner-Übungsschießen in Achenwald«, verkündet die Terminvorschau der Tegernseer Gebirgsschützen. Salutzugführer Gasteiger wird sich an dem Tag den feschen rostbraunen Janker anziehen und mit Blick auf das Karwendelgebirge auf die Gamsscheiben schießen, bis die Krachlederne wackelt.
Dass die Tegernseer Schützen in Achensee schießen, ist nichts Neues. In der Vereinschronik heißt es über das Jahr 1809: »Unter dem Obersten Graf Arco muss das Gebirgsschützen-Corps in das von Bayern besetzte Tirol erneut ausrücken, als dort ein Aufstand unter Andreas Hofer ausbricht. Die Tegernseer schützen ihre Heimat am Achensee und Achental.«
Im Unterschied zu damals sitzt der Feind heute aber nicht in Tirol, sondern im Umweltministerium in München. Seit Beginn des neuen Jahrtausends sind Betreiber von Schießanlagen in Bayern verpflichtet, mit dem Umweltamt zu kooperieren. Die Auflagen sind streng, seit bei Messungen im Freistaat äußerst bedenkliche Ergebnisse bekannt wurden. Vor allem die Belastung durch Blei, Antimon und Arsen in der Erde – verursacht durch die Geschosse der Schützen – hat teils katastrophale Werte angenommen.
Blei bildet den Kern der Projektile, die mit Gewehren verschossen werden. Bei jedem Schuss an der Zielscheibe vorbei dringt es in den Kugelfang ein, meist ein Erdwall. Beim Tontaubenschießen landet alles Bleischrot in der Flora. Das Gift sickert durch Regen in das Grundwasser und gefährdet die Gesundheit der Anrainer. »Erhöhte Bleikonzentrationen schädigen die Blutbildung, innere Organe und das zentrale Nervensystem«, sagt der Wiener Allgemeinmediziner Peter Voitl. Irreparable Hirnschäden und Störungen des Nervensystems können die Folge sein. Während aber in ganz Österreich Bleileitungen ausgetauscht werden und Tankstellen nur noch bleifreies Benzin anbieten, ignoriert das wachsame Auge der Behörden die etwa hundert Freiluft-Schießplätze, die es bundesweit gibt. Sie liegen meist abseits bewohnter Gebiete im Grünbereich und sind zwischen 15 und 100 Hektar groß.
Nur zwei oberösterreichische Schießplätze wurden geschlossen
»Es ist ein Skandal, dass es in Österreich kein Kataster für Bodenbelastungen durch Blei gibt«, empört sich Johann Maier. Der rührige SPÖ-Abgeordnete wollte von Umweltminister Nikolaus Berlakovich (ÖVP) Auskunft über die Bleibelastung erhalten. »Die Schießplätze sind umweltpolitische Zeitbomben, aber der zuständige Minister tut so, als ginge es ihn gar nichts an.« Tatsächlich beruft sich Berlakovich auf Anfrage bloß auf einen allgemeinen Umweltbericht – eine spezielle Prüfung der Böden von Schießplätzen ist nicht geplant.
Einzig 2006 wurden zwei Plätze in Oberösterreich im Auftrag des Umweltministeriums untersucht. Die Ergebnisse waren verheerend: »Der Boden im Bereich des Schießplatzes ist mit Blei, Arsen und Antimon sowie in Teilbereichen auch durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe verunreinigt. Insbesondere bei Blei werden verschiedene Bodenprüfwerte in weiten Bereichen um mehr als das Zehnfache überschritten«, heißt es im Bericht des Umweltbundesamtes über den Wurftaubenschießplatz Treffling. Am Schießplatz Kuchlmühle sind die Zustände noch schlimmer: »Eine Anreicherung von Blei in verschiedenen Pflanzen und Organismen konnte nachgewiesen werden. Die Verunreinigungen stellen eine erhebliche Gefährdung für das Schutzgut Boden und auch für das Schutzgut Grundwasser dar«, stellt das Amt trocken fest. Es blieb sein bisher letzter Prüfauftrag in der Angelegenheit.
Beide Plätze wurden zur Altlast erklärt und warten derzeit auf ihre Sanierung. Ein Schicksal, das auch andere Schießplätze im Land treffen würde – gäbe es denn Untersuchungen. In Tirol, wo die Tegernseer Gebirgsschützen herumballern, hat noch keiner nach Bleiwerten gefragt. Und das soll so bleiben. »Es sind keine Vorhaben zur Einschränkung der Bleibelastung bekannt«, lässt Umweltlandesrat Hannes Gschwentner ausrichten. Auch die anderen Bundesländer sehen keine Veranlassung nachzusehen, wie es um Boden, Pflanzen und Wasser in und um ihre Schießplätze steht.
In der Schweiz wollte man es genau wissen und hat vor fünf Jahren den Boden auf der Rütliwiese untersucht. Dort pflegen Schweizer Bürger seit Jahrhunderten die Kunst des Wettschießens. Kurz nach der Messung wurde Kindern der obligate Besuch der Wiese verboten – hier schworen die Eidgenossen aus Uri, Schwyz und Unterwalden Ende des 15. Jahrhunderts einander Unterstützung gegen die Habsburger. Die Wiese, auf der die Kinder ihre Jause einzunehmen pflegten, wurde mit Absperrbegrenzungen versehen. Anschließend wurde die gesamte obere Erdschicht mit Baggern abgetragen und als Sondermüll entsorgt. Nicht immer unter dem Applaus der Schweizer. »Nächst dem Blei könnte in der Erde unter dem Gras vielleicht noch die Armbrust-Pfeilspitze aus Wilhelm Tells Jahren stecken. Weg damit, Sondermüll«, empörte sich der aufgebrachte Patriot Ulrich Schlüer auf seiner Homepage über die »Landvogte des 21. Jahrhunderts«.
Das Bundesamt für Umwelt hat in der ganzen Schweiz 400 Schießplätze untersuchen lassen. 8.000 Franken (6.660 Euro) Zuschuss pro Schießscheibe zahlt der Bund für die Sanierung der verbleiten Plätze. Bis Ende 2012 müssen alle Anlagen in Grundwasserzonen saniert sein, alle anderen bis zum Jahr 2020. »Bezüglich Kostenverteilung gilt das Verursacherprinzip«, erklärt Christoph Wenger, Chef der Abteilung Boden des Bundesamts. »In erster Linie sind die Schützen, welche die Belastung direkt verursacht haben beziehungsweise die Schützenvereine und die Gemeinden, die die Anlagen betreiben, kostentragungspflichtig.« Die Gesamtkosten für die Sanierungen der Schweizer Schießanlagen schätzt Wenger auf 600 bis 900 Millionen Franken, das wären etwa 500 bis 750 Millionen Euro.
Österreichs Schützen und Anlagenbetreiber ersparen sich mangels amtlich festgestellter Sanierungsbedürftigkeit diese Kosten. Blei ist hier kein Thema. Es sei denn bei Tieren. Immer wieder werden Steinadler-Findlinge in den Innsbrucker Alpenzoo gebracht. Sie haben fast alle eine Bleivergiftung. Schuld daran ist die Jagd nach Enten und anderen Wasservögeln mit Schrot. Adler fressen die von Jägern vor Ort hinterlassenen Gedärme der erschossenen Wasservögel – samt den Spuren der Bleimunition. Die Enten wiederum fressen gelegentlich die vielen Schrotkörner, die nach der Jagd in ihrem Revier herumliegen, und vergiften sich damit. Die Flossenfüßler nehmen nämlich gerne kleine Steine auf, um die Nahrung besser zu verdauen. Der Genuss von Flugenten kann Gourmets also schwer im Magen liegen. Das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung hat deshalb im vergangenen Jahr Kinder, Schwangere und Frauen mit Kinderwunsch vor dem Genuss von Wild gewarnt. Die Bleibelastung sei wegen der Jagdmunition zu groß.
Diesen Sommer tritt österreichweit ein Verbot von Bleimunition in Kraft. Es gilt allerdings nur für die Jagd auf Wasservögel. Im Jagdrevier und auf Österreichs Schießplätzen wird weiterhin mit Giftstoffen geballert. Hunderte Tonnen Blei landen so jedes Jahr im Erdreich und damit im Nahrungskreislauf. Zwar gibt es bleifreie Munition, aber die Jägerschaft wehrt sich dagegen, weil die Flugbahn der Projektile anders verläuft als gewohnt. Einzig Andreas Januskovecz, Leiter des Forstamts der Stadt Wien, meint: »Über kurz oder lang muss das Blei aus der Munition verschwinden.«
Dann dürfen die Tegernseer Gebirgsschützen endlich auch wieder daheim in Oberbayern unter heimatlichem Firmament schießen und müssen nicht als Bleitouristen ins Tirolerische ausweichen. Bis dahin werden aber noch viele Maß Bier im Bräustüberl fließen. Garantiert bleifrei wird die erste Woche im August für die Schützen werden. Salutzugführer Günter Gasteiger wird mit seinen Kameraden im Sonderzug und in einwandfreier Montur ins Ausland reisen – diesmal unbewaffnet. Ehrenoffizier Benedikt XVI. lädt in seiner Sommerresidenz Castel Gandolfo zur Privataudienz. Als Schützenhilfe der spirituellen Art.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Österreich Ausgabe Nr. 21/2012 vom 16. Mai 2012.
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