Durch fehlenden Wettbewerb verdienen Konzerne mit Zeckenimpfungen viel Geld. Für andere Krankheiten fehlen Medikamente
Von Gerd Millmann
Erschienen in DIE ZEIT Nr. 25/2014 vom 12. Juni 2014
Die Zecken krabbeln wieder. Jedes Frühjahr sollen überdimensionale Bilder der kleinen Parasiten den Österreichern Angst einflößen. Schützt euch vor den gefährlichen Blutsaugern, suggerieren die Plakate im ganzen Land: Mit ihrem Biss können sie Frühsommer-Meningoenzephalitis, kurz FSME, übertragen. Die Krankheit kann zu schweren Entzündungen des Hirn- und Rückenmarks führen. Zum Glück gibt es Abhilfe in Form einer vorbeugenden Schutzimpfung. Das Werben dafür dient aber nicht nur der Volksgesundheit, sondern auch dem Profit der Impfstoffhersteller. Zwar wird die FSME-Impfung im österreichischen Impfplan schon für Kinder im ersten Lebensjahr empfohlen, sie ist aber nicht Teil des Gratis-Impfplans – und muss daher aus eigener Tasche bezahlt werden.
Den Preis für den Wirkstoff bestimmen zwei Hersteller, die Politik muss ihn akzeptieren. Das ist nur ein Beispiel dafür, woran es in der Pharmabranche krankt. Bei der Lieferung anderer Impfstoffe gibt es Engpässe, für bestimmte Altersgruppen und Krankheiten sind teilweise gar keine Medikamente zu bekommen. Eine Entwicklung, die unerwünschte Nebenwirkungen hat und die Ärzte zum Improvisieren zwingt.
In Österreich gibt es zwei Arten von Medikamenten: Die einen werden von den Krankenkassen und der öffentlichen Hand bezahlt. Bevor sie in den Erstattungskodex aufgenommen werden, versuchen die Kassen den Preis dafür zu drücken. 3,3 Milliarden Euro haben Medikamente-Erzeuger auf diese Weise im Vorjahr für ihre Leistungen erhalten. Die zweite Klasse von Medikamenten wird nicht von den Kassen bezahlt: Ihren Abgabepreis bestimmen die Unternehmen, das Gesundheitsministerium wird darüber nur informiert. Zu dieser zweiten Klasse gehören die Impfstoffe gegen FSME.
Während Bund, Länder und die Kassen also etwa die Kosten für Kinderimpfungen gegen Mumps, Masern oder Röteln übernehmen, müssen Eltern für die dreiteilige FSME-Impfung ihres Kindes 80,70 Euro zahlen. Bis Ende Juli gewähren die Impfmittelhersteller 5 Euro Rabatt pro Impfung, die Wiener Gebietskrankenkasse überwindet sich zu jeweils 2 Euro Zuschuss – „als Maßnahme zur Erhaltung der Volksgesundheit“, wie sie auf ihrer Webseite verkündet. Erwachsene zahlen für eine dermaßen geförderte FSME-Impfung 31,90 Euro. Wenn sich also eine vierköpfige Familie zum Schutz gegen FSME immunisieren lassen will, muss sie mehr als 200 Euro auf den Tisch legen.
Trotzdem ist den meisten Österreichern der Schutz vor FSME wichtiger als das Geld. Seit den 1980er Jahren wird die Schutzimpfung heftig beworben: Nicht zuletzt deshalb liegt die Durchimpfungsrate bei 90 Prozent – ein weltweiter Rekord. Während in den 1970er Jahren – vor der Zulassung des Impfstoffs – jedes Jahr noch um die 700 Menschen an FSME erkrankten, waren es in den letzten zehn Jahren nur noch um die 70 Personen. Eine Auffrischungsimpfung wird alle fünf Jahre empfohlen, ab einem Alter von 60 Jahren sieht der Impfplan ein dreijähriges Intervall vor. Die sonst so peniblen Schweizer empfehlen übrigens nur alle zehn Jahre eine Auffrischung. „Natürlich gibt es Personen, bei denen der Impfschutz sehr viel länger hält. Wir haben die Empfehlung ohnedies von drei auf fünf Jahre ausgeweitet“, sagt Herwig Kollaritsch, Leiter der Forschungsabteilung Epidemiologie und Reisemedizin an der Medizinischen Universität Wien.
An die zwei Millionen Dosen FSME-Impfstoffe werden jährlich in Österreich verkauft. In diesem Jahr spült das rund 60 Millionen Euro in die Kassa der Produzenten. Dennoch gibt es nur zwei Anbieter: Novartis Austria, die Tochtergesellschaft des weltweit größten Pharmakonzerns aus der Schweiz, und Baxter Austria. In den 1990er Jahren übernahm der US-Konzern die österreichische Immuno AG, die gemeinsam mit dem Erfinder der FSME-Impfung, dem Virologen Christian Kunz, bis dahin den FSME-Markt im Alleingang kontrolliert hatte. Danach führte der eingeschränkte Wettbewerb dazu, dass die Abgabepreise beider Firmen in merkwürdigem Gleichklang nach oben gingen. Der Wiener Reisemediziner Johann Sommer hat die Preissprünge dokumentiert. „Natürlich gibt es hier keine Absprachen, das wäre ja nicht erlaubt“, sagt er etwas doppeldeutig. Im Juni 2004 bot Novartis den FSME-Impfstoff Encepure um 22,50 Euro an, Konkurrent Baxter verlangte ebenfalls 22,50 Euro. Im Jänner 2008 waren die Impfstoffe der Konkurrenten um 25,90 Euro zu haben, im Juni 2010 um 27,30 Euro, im Jänner 2012 kosteten sie 29,50 Euro. Im Juli 2013 war der Preis im Paarlauf auf 30,70 Euro geklettert. Heute beträgt er 38,50 Euro. Ein Zufall? Baxter und Novartis verweisen auf die übliche Begutachtung durch die Preiskommission des Gesundheitsministeriums. Man orientiere sich am EU-Preisniveau. Es gebe keine Abstimmungen unter Mitbewerbern.
In Österreich erkranken jährlich rund 16.000 Menschen an Borreliose
Umso erstaunlicher, dass es dort, wo die Krankenkasse nicht als Preisdrücker agiert, keinen funktionierenden Wettbewerb gibt. Aber kein Unternehmen kann gezwungen werden, FSME-Wirkstoffe zu erzeugen. Die Zulassungsbehörde entscheidet nur über die Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln. „Die Zahl der Anbieter können wir nicht beeinflussen. Sie liegt bei einem bis zehn Unternehmen und ist vom Markt abhängig“, sagt Christoph Baumgärtel von der Bundesagentur für Ernährungssicherheit.
Vielleicht muss man sogar froh sein, überhaupt zwei Anbieter zu haben. „In anderen Bereichen ist es noch schlimmer“, sagt Peter Voitl. Der Wiener Kinderarzt ist immer öfter mit dem Mangel an geeigneten Medikamenten konfrontiert. „Es gibt derzeit keinen Hustensaft für unter Dreijährige“, sagt er. Deshalb müssen er und seine Mitarbeiter auf selbst gebastelte Alternativen setzen. Aktuell gibt es auch Engpässe beim Keuchhusten-, Gelbfieber- und Diphtherie-Impfstoff. An die 15 Prozent der Impfstoffe sind derzeit nicht lieferbar – Tendenz steigend. „Eine fatale Entwicklung“, sagt Impfexperte Kollaritsch. „Die Produktionsstätten werden in Staaten ausgelagert, in denen die Kosten niedriger und Vorschriften weniger streng sind. Und es gibt immer weniger dieser Fabriken. Fällt eine aus, dann gibt es den Impfstoff einfach nicht mehr.“
Dazu kommt, dass die Konzerne zunehmend geringer in die Forschung an Produkten investieren, die wenig Gewinn versprechen. Die Zecke, um beim Beispiel zu bleiben, kann auch Borreliose übertragen, eine bakterielle Krankheit, in deren Verlauf die inneren Organe beschädigt werden. In Österreich erkranken jährlich rund 16.000 Menschen daran nach einem Zeckenbiss. Baxter war bereits dabei, einen Impfstoff dagegen zu entwickeln, Kollaritsch selbst begleitete das Projekt: „Leider wurde die Entwicklung im Vorjahr eingestellt, weil Phase zwei der Zulassung im Vergleich zu den erwartbaren Einnahmen zu teuer war.“ Ein Beispiel mehr dafür, wie Gesundheitspolitik mit den Gesetzen des Marktes kollidiert. Niemand kann Konzernen vorschreiben, worauf sie ihren Fokus legen. Zurzeit investieren sie vor allem in die Krebs-, Diabetes- und Immunerkrankungsforschung.
Im Gegensatz zu der Entwicklung, sich aus unrentablen Bereichen zurückzuziehen, steht das Bemühen der Firmen, Kontakt zu den Ärzten zu halten, die ihre Produkte zum Einsatz bringen. In alter Tradition werden Österreichs Ärzte beim alljährlichen Impftag über die Neuerungen des Impfplans informiert. Veranstaltet wird dieser Ärztetreff vom Grünen Kreuz für Vorsorgemedizin, einem Verein, der der Pharmaindustrie nahesteht. Die Vortragenden müssen nicht, wie international üblich, ihre Kooperationen mit Pharmaunternehmen oder ihre Auftrittsgage offenlegen. Dagegen regte sich dieses Jahr erstmals Protest. Nun wollen die Veranstalter mehr Wert auf moralische Hygiene legen. „Wir haben den Impftag im Februar im Wiener Rathaus veranstaltet. Ohne Unterstützung der pharmazeutischen Industrie, dafür mithilfe der Stadt“, sagt Kinderarzt Voitl, der auch die Impftage erfunden hat. In einer Abstimmung sprachen sich zwei Drittel der 500 Teilnehmer dafür aus, wegen möglicher Unvereinbarkeit auch in Zukunft die Pharmaindustrie bei der Organisation draußen zu lassen.
Offenbar wissen sich die Ärzte zu helfen, auch beim Medikamentenmangel. In der Not hat ihr Einfallsreichtum schon zu Innovationen geführt. Nach dem Ablauf des Patentschutzes für das Potenzmittel Viagra gibt es eine Reihe von Generika auf dem Markt, also Mittel mit demselben Wirkstoff, die günstiger sind als das Original. „Zur Behandlung von Lungenhochdruck bei Kindern verwenden wir jetzt einen Mix, in dem das heimische Viagra-Generikum Direktan die Hauptrolle spielt“, sagt Voitl und freut sich. Die Behandlung sei jetzt viel günstiger als mit dem Originalmedikament gegen Bluthochdruck. Einziger Nachteil: Direktan schmeckt nach Pfefferminze, dadurch verleiht es Männern nicht nur Potenz, sondern auch guten Atem. „Leider schmeckt den meisten Kindern Pfefferminze nicht, da müssen wir heftige Überzeugungsarbeit leisten.“
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT, Österreich Ausgabe 25/2014 vom 12. Juni 2014.
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