In DDR-Gefängnissen schufteten Häftlinge für westliche Unternehmen – darunter auch österreichische
Von Gerd Millmann
Erschienen in DIE ZEIT, Nr. 45/2014 vom 30. Oktober 2014
Bei Edda Sperling sind die Türen nie verschlossen. „Das halte ich seit meiner Haft nicht mehr aus“, sagt sie. Die 60-Jährige musste als Zwangsarbeiterin für die vor 25 Jahren untergegangene Deutsche Demokratische Republik (DDR) schuften. „Um fünf Uhr wecken, abrücken zur Arbeit – Strumpfhosen für den Westen. Das war Sklaventreiberei, das war menschenverachtend, wie wir gehalten wurden, was wir erfüllen mussten. Wir sind kaputt und keiner kümmert sich darum.“
Sperling kam in den 1970er Jahren ins Frauengefängnis Hoheneck in Sachsen. Ihr Verbrechen: versuchte Republikflucht. Sie hatte durch die geschlossene Grenze der Diktatur in die Bundesrepublik Deutschland flüchten wollen, die als „faschistischer Feindesstaat“ galt. Bis zu fünf Jahre Haft gab es dafür. Aber auch die „ungesetzliche Sammlung von Nachrichten“, „landesverräterische Nachrichtenübermittlung“, „ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ oder „staatsfeindliche Hetze“ wurden von der DDR-Justiz vehement geahndet. Der Spitzelstaat versuchte jede Kritik durch abschreckende Urteile im Keim zu ersticken.
Die Zahl der politischen Häftlinge in der 41-jährigen Geschichte des Landes wird auf bis zu 250.000 Personen geschätzt – und für sie alle bestand Arbeitspflicht in einem der 600 Staatsbetriebe. Der Großteil musste dort für Westfirmen schuften. Für Ikea, für Aldi, für Quelle, C&A oder Neckermann. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Mehrere Hundert westliche Unternehmen haben Waren bezogen, die von Häftlingen produziert wurden, zeigen die Recherchen des Historikers Tobias Wunschik, Autor des Buches Knastware für den Klassenfeind . Auch österreichische Firmen waren darunter, die heute von dieser Vergangenheit nichts mehr wissen wollen. Die Zwangsarbeiter der NS-Diktatur sind entschädigt worden, um jene in der DDR missbrauchten Arbeitskräfte kümmert sich niemand.
„Zum Beispiel mussten 300 Häftlingsarbeiter aus dem Jugendgefängnis Ichtershausen in der Maschinenfabrik und Eisengießerei Dessau Antriebsgetriebe für die Vöst-Alpine AG herstellen“, sagt Wunschik. Belegt ist auch, dass in einem anderen volkseigenen Betrieb, dem Edelstahlwerk Freital, Gefangene Stahl für den damaligen Vöst-Betrieb Schoeller-Bleckmann in Ternitz gossen. Die Österreichische Lloyd Wien hat in DDR-Fabriken Schiffe von Zwangsarbeitern bauen lassen.
Auch im Fotochemischen Kombinat Wolfen, in den Keramischen Werken Hernsdorf und in der Gießerei Torgelow mussten politische Häftlinge für österreichische Betriebe schuften, für welche, ist nach wie vor unklar. Die meisten Auftraggeber lassen sich mittlerweile nur noch schwer eruieren, weil das Thema historisch kaum bearbeitet ist. Außerdem wurde diskret vorgegangen, da schon damals Aufträge an DDR-Betriebe als anrüchig galten und gerne verschleiert wurden.
Dennoch fanden Berichte immer wieder einen Weg an die Öffentlichkeit, zum Beispiel 1982 in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung . „Im Westen hätte man Bescheid wissen können, wenn man wollte“, stellt Christian Sachse dazu fest. Der Politikwissenschaftler forscht zum Thema DDR-Zwangsarbeit. Die Arbeitsbedingungen waren zum Teil katastrophal. „Es gab Bestrafungen für die Untererfüllung von Normen, das wurde auch als Sabotage ausgelegt. Dunkelhaft, das Festketten an Betten und so weiter waren die üblichen Strafen.“
Generell wurde wenig Wert auf Sicherheitsmaßnahmen gelegt. Daher kam es häufig zu Arbeitsunfällen. Politische Gefangene galten als hoffnungslose Fälle und wurden schlechter behandelt als „gewöhnliche“ Häftlinge. Denn diese wurden immerhin noch als resozialisierbar angesehen. „Also wurden die Kriminellen zur Disziplinierung und Überwachung der politischen Gefangenen eingesetzt“, erzählt Wunschik. Wer „aus Feindschaft Verbrechen gegen die DDR“ verübt hatte, für den waren die Haftbedingungen „strenger auszugestalten als für die übrigen Strafgefangenen“, so sahen es die Richtlinien für den „sozialistischen Strafvollzug“ vor. Gesundheitsschäden und psychische Langzeitfolgen waren für Tausende politische Gefangene die Folgen.
„Gerechtigkeit und die Einrichtung eines Zwangsarbeiterfonds“
Ein weiterer Grund für die unklare Datenlage zu dem heiklen Thema sind sogenannte Umgehungskonstruktionen. Das westdeutsche Unternehmen Siemens etwa durfte mit der DDR nicht direkt Geschäfte machen. „Also suchte Siemens österreichische Partner, um das Geschäft unter österreichischer Flagge laufen zu lassen“, erinnert sich der Journalist Ewald König, langjähriger DDR-Korrespondent der Tageszeitung Die Presse .
Honeckers erster westlicher Staatsbesuch führte nach Wien
Nicht ohne Grund wurde Österreich als Vermittler und Strohmann gesucht: Die Beziehungen zur DDR waren außerordentlich gut. Als erster westlicher Regierungschef besuchte SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky 1978 die DDR. Erich Honecker, der Staatsratsvorsitzende, durfte 1980 offiziell nach Wien reisen, zu seinem ersten Westbesuch. Auch Bundespräsident Rudolf Kirchschläger leistete mit seinem Staatsbesuch in die DDR 1983 einen Beitrag dazu, dass sich die realsozialistische Diktatur auf dem internationalen Parkett etablieren konnte. Auf rechtlicher Ebene führte diese Sonderbeziehung zu einer Reihe bilateraler Verträge.
Nach dem Abkommen über die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik von 1978 wurde zwei Jahre später ein langfristiges Handelsabkommen beschlossen. Das Abkommen über wirtschaftliche, technische und industrielle Zusammenarbeit von 1984 hatte eine „gegenseitige vorteilhafte Zusammenarbeit“ zum Ziel: vor allem in den Bereichen Metallurgie, Kohleerschließung und -veredlung, rationeller Energieanwendung, Maschinen- und Anlagenbau, Chemie, Elektrotechnik/Elektronik, Agrartechnik, Forstwirtschaft, Bauwirtschaft, Konsumgüterwirtschaft und Umweltschutz.
Kein Wunder, dass das Zentralorgan der SED Neues Deutschland im Jänner 1984 auf seiner Titelseite schrieb: „Wirtschaftsbeziehungen zwischen DDR und Österreich sind langfristig und stabil“.
Diese trauten Beziehungen wurden allerdings auf dem Rücken Tausender Zwangsarbeiter errichtet. Das ständig unterfinanzierte DDR-Regime benötigte dringend Devisen, und die Westaufträge brachten diese ein. Den österreichischen Sozialdemokraten unter Bruno Kreisky waren Arbeitsplätze wichtiger als moralische Bedenken, das belegen auch die zahlreichen Waffengeschäfte mit südamerikanischen Diktaturen.
In Deutschland haben sich die ehemaligen Zwangsarbeiter der DDR zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen. „Wir fordern Gerechtigkeit und die Einrichtung eines Zwangsarbeiterfonds, in den die betroffenen Firmen einzahlen“, sagt Hugo Diederich, Bundesvorsitzender der Vereinigung der Opfer des Stalinismus. Schließlich bekämen die Ex-Zwangsarbeiter wegen fehlender Beitragsjahre auch weniger Pension. Das zu erreichen könnte schwierig werden, denn juristisch lässt sich den Firmen, die damals Aufträge an die kommunistische Knastwirtschaft vergaben, nichts vorwerfen. Nicht sie selbst, sondern ihre DDR-Partnerunternehmen setzten die Zwangsarbeiter ein. Trotzdem hoffen die Betroffenen auf moralische Unterstützung und den Druck der Öffentlichkeit.
Die betroffenen Unternehmen scheuen die Auseinandersetzung mit ihrer DDR-Vergangenheit freilich wie der Teufel das Weihwasser. Nur Ikea hat inzwischen eine Historikergruppe damit beauftragt, das dunkle Kapitel in der Firmengeschichte des schwedischen Möbelriesen zu erkunden. „Letztlich ging es den Unternehmen um den Profit. Ob politische Häftlinge zu schlimmen Arbeitsbedingungen eingesetzt wurden, war ihnen egal“, sagt der Historiker Wunschik.
Von den Zwangsarbeitern wollen Österreichs Firmen nichts mehr wissen
Die österreichischen Konzerne reagieren auf Nachfragen zu dem Thema peinlich berührt. Die Vöst-Alpine verweist darauf, dass jetzt Siemens Österreich für das damals verantwortliche Unternehmen Vöst-Alpine Industrieanlagenbau zuständig sei. Man beschäftige zwar eine Historikerin, aber deren Schwerpunkt liege in der Zeit der NS-Diktatur.
„Unsere Behörde steht für Recherchen zur Verfügung“
Siemens Österreich hat entsprechende Anfragen konsequent ignoriert. Schoeller-Bleckmann ist inzwischen zerschlagen worden, und die Österreichische Lloyd gibt an, von DDR-Aufträgen und Zwangsarbeit nichts zu wissen.
„Natürlich liegt die letzte Verantwortung für die Ausbeutung der Gefangenen bei der SED-Spitze“, relativiert Tobias Wunschik die Schuld der westlichen Konzerne. Dennoch hätten die angeblich ahnungslosen Auftraggeber wissen müssen, wie ihre DDR-Partner zu den unschlagbar billigen Preisen gekommen seien: durch den konkurrenzlos günstigen Einsatz von Gefangenen!
Wie zynisch der Umgang mit Zwangsarbeitern in der DDR selbst war, zeigt eine Episode aus dem Jahr 1987: Anlässlich des 38. Jahrestags der Staatsgründung amnestierte die Parteispitze 24.000 Strafgefangene in einem Akt milder Großzügigkeit. Honecker und sein Regime wollten sich dem Vorwurf entziehen, es gäbe in der DDR politische Gefangene. Für die Wirtschaft war diese PR-Aktion ein schwerer Schlag. Es fehlten die billigen Arbeitskräfte, die so erfolgreich die dringend benötigten Devisen erarbeitet hatten. „Schon im Laufe des Jahres waren die Gefängnisse wieder gefüllt und der Arbeitskräftemangel behoben“, sagt Wunschik. Der DDR-Zwangsapparat habe einfach härter als bislang durchgegriffen, um das Problem zu beheben.
Viele ehemalige Zwangsarbeiter wissen bis heute nicht, für wen sie letztendlich geschuftet hatten. Die Bundesrepublik sieht sich nicht als Rechtsnachfolgerin der DDR und kann daher nicht geklagt werden. Die Ex-Sträflinge fühlen sich im Stich gelassen. Viele beklagen anhaltende Gesundheitsprobleme. Auch Edda Sperling hat wie ihre Leidensgenossen keine Wiedergutmachung bekommen. Das wird wohl auch nicht so schnell passieren.
Die Unternehmen zeigen wenig Interesse an den öffentlich einsehbaren Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. „Ich begrüße jede Einsichtnahme. Unsere Behörde steht für Recherchen zur Verfügung“, sagt der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Robert Jahn. Doch trotz medialer Aufmerksamkeit sind erst vier Betriebe bei seiner Behörde vorstellig geworden. Ein österreichisches Unternehmen war nicht darunter.
Dieser Artikel erschien in der ZEIT, Österreich Ausgabe Nr. 45/2014 vom 30. Oktober 2014.
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