Alles wird normiert – von einem privaten Verein. Den will nun ein neues Gesetz an die staatliche Kandare nehmen.

Von Gerd Millmann

Erschienen in DIE ZEIT, Nr. 33/2015 vom 13. August 2015

Nichts darf aus der Reihe tanzen. Fast jedes Ding in Europa folgt einem strengen Regelwerk und ist normiert. Die Europalette beispielsweise ist der vielleicht bekannteste vereinheitlichte Gebrauchsgegenstand des Kontinents. Die hölzerne Transportunterlage ist in jeder Lagerhalle vom Nordkap bis nach Sizilien gleich groß: 1.200 mal 800 mal 144 Millimeter. Es gibt 23.423 Normen. Jährlich kommen Hunderte hinzu. Schrauben, Fahrräder, Ziegel, TV-Geräte: Sie alle werden in Europa nach Normen erzeugt. Es gibt sogar eine eigene Norm, die ÖNORM 14.725, die festlegt, wie Produkte für Raumfahrtsysteme verifiziert werden müssen.

Schon aus Eigeninteresse hält sich jeder Produzent sklavisch an dieses Reglement. Aber nicht weil sie durch Gesetze oder Verordnungen dazu gezwungen würden. Die Hersteller halten sich freiwillig an dieses System. Logisch, nur genormte Schrauben passen in die entsprechende Schraubenmutter. Industrie und Wirtschaft, Spitäler und Schulen: Sie alle würden ohne Normen nicht funktionieren.

Normen haben den merkwürdigen Wesenszug, dass sie abseits der Parlamente festgelegt werden – gewisse Standards werden vom Gesetzgeber lediglich übernommen, hauptsächlich in den Bauordnungen.

In Österreich ist die Vergabe von Normen nur einer einzigen Institution gestattet: dem Normungsinstitut Austrian Standards, einem gemeinnützigen Verein, Gründungsjahr 1920, mit 110 Mitarbeitern, der unter Aufsicht des Wirtschaftsministeriums steht. Dieses ist nun auch dafür verantwortlich, dass bald der Normierungsnotstand in Österreichs drohen könnte. Der Grund dafür heißt Normungsgesetz 2015.

„Grundsätzlich darf jeder an einer neuen Norm mitarbeiten“, erklärt Johann Stern, der Sprecher des Vereins. Üblicherweise wirken Fachleute aus Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Forschung sowie Konsumentenschützer an der Festlegung Normen mit. Und zwar in Komitees, die von einem Mitarbeiter des Vereins moderiert werden. Komitee 178 beispielsweise kümmert sich um Seilförderanlagen und Pistensysteme, Komitee 120 hat Abwassertechnik im Fokus, Komitee 203 Schutzräume.

Vor knapp zwei Jahren mussten die Regelungspezialisten erleben, dass nicht alles normiert werden kann. Das Komitee zur Regelung des Schriftverkehrs widmete sich dem Binnen-I und trat für dessen Abschaffung im Schriftverkehr ein. Mehr brauchte es nicht, auf allen Kanälen brach ein empörtes Strafgewittter über das altehrwürdige Institut herein. Letztendlich wurde nicht nur die Forderung gestrichen, sondern gleich das gesamte Komitee aufgelöst. Übrig blieb aber der Eindruck einer überbordenden Regelungswut.

Die aktuelle Krise ausgelöst hat jetzt der Unmut der Bauindustrie und gewisser Wohnbauträger. Bei einer parlamentarischen Enquete forderten SPÖ-Wohnbausprecherin Ruth Becher und SPÖ-Wirtschaftssprecher Christoph Matznetter, der „Normendschungel im Wohnbau“ müsse gelichtet werden. Die Fülle von Auflagen mache den Wohnbau unnötig teuer, so der Vorwurf der Sozialdemokraten.

In die gleiche Kerbe schlägt auch Karl Wurm, der Vorsitzende des Verbands der gemeinnützigen Bauvereinigungen: „In den letzten Jahren ist eine Flut an Normen auf uns zugekommen, aber niemand hat dabei bedacht, welche Kosten das nach sich zieht.“ Wurm ortet auch „Interessen im Hintergrund“ bei den an den Normen mitwirkenden Experten: „Wenn zum Beispiel Vertreter der Dämmstoffindustrie an ökologischen Normen mitarbeiten.“

Schließlich wurde im Arbeitsübereinkommen der Regierung von 2013 mit dem Koalitionspartner ÖVP vereinbart: „Novellierung des Normengesetzes“ mit Schwerpunkten auf Kontrolle und verschärftem Aufsichtsrecht für das Wirtschaftsministerium.

Der neue Gesetzesentwurf stößt vielerorts auf Kritik

Im Juni legte Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner das Normengesetz 2015 vor. Der Gesetzesentwurf schlug ein wie eine Bombe. 97 Stellungnahmen zu der Novellierung trudelten ein: von Ministerien, Konzernen, Kleinunternehmen, Fachverbänden, Sozialpartnern, Universitäten, Versicherungen, vom Rechnungshof, vom Bundeskanzleramt und von Austrian Standards. Die überwiegende Anzahl der Stellungnahmen ist kritisch bis ablehnend.

„Beim Durchlesen des Entwurfes wird der geschätzte Leser den Eindruck nicht los“, bemäkelte etwa die Österreich-Tochter des deutschen Aufzugherstellers Kone, „dass der Gesetzesentwurf offensichtlich überhastet entstanden ist.“ Voestalpine fordert eine Neufassung des Paragrafenwerks „unter Einbeziehung der Interessen aller an der Normung interessierten Kreise“. Die Industriellenvereinigung ortete „dringenden Diskussionsbedarf“. Austrian Standards beauftragte sogar den Verfassungsrechtler Heinz Mayer mit einem Gutachten. „Hier wird versucht, den Verein zu verstaatlichen“, lautet dessen Fazit. Mayer bescheinigt dem Gesetzesentwurf mehrere verfassungsrechtliche Verstöße.

Austrian Standards stößt sich daran, dass fortan laut Entwurf die Inhalte bestimmter Normen gratis zur Verfügung gestellt werden sollen. Dadurch sähe der deutsche Partner DIN sein Geschäftsmodell gefährdet. Er würde nämlich dann kaum mehr Kopien von EU-Normen verkaufen können, weil diese ohnedies kostenlos in Österreich abzurufen wären. Die Deutschen drohen, sollte das neue Gesetz Wirklichkeit werden, würde man dem österreichischen Partner keine Normen mehr ins Deutsche übersetzen. „Was das für einen Kleinbetrieb in Österreich bedeutet, nur mit einer englischsprachigen Norm arbeiten zu müssen, kann sich jeder vorstellen“, meint Elisabeth Stampfl-Blaha, die Direktorin von Austrian Standards.

Das österreichische Normungsinstitut droht zusätzlich aus dem europäischen Fachverband CEN ausgeschlossen zu werden, weil dieser Unabhängigkeit und Neutralität nicht mehr gewahrt sehen würde, wie CEN in seiner Stellungnahme warnt. Österreich könnte dann nicht mehr an Normen für den EU-Raum mitwirken – mit allen damit verbundenen Nachteilen für die österreichische Wirtschaft.

Ebenso in Kritik steht, dass künftig jeder, der eine Norm beantragt, im Voraus deren Entstehungskosten bezahlen müsse. Kleine Unternehmen sehen in der jeweils zwischen 15.000 bis 25.000 Euro hohen Gebühr eine Benachteiligung.

Dennoch droht dem Institut der finanzielle Kollaps. Derzeit lebt es vom Verkauf der Normeninhalte und von einer Teilnahmegebühr am Normierungsprozess in der Höhe von 450 Euro. Der Gesetzesentwurf sieht aber vor, dass die Teilnahme an einem der Komitees ebenso kostenlos sein soll wie die teilweise Veröffentlichung der Normeninhalte. Als Ersatz plant das Wirtschaftsministerium eine jährliche Apanage von einer Million Euro. „Unsere jährlichen Kosten liegen aber bei 1,7 Millionen“, sagt Sprecher Stern.

Überhaupt soll das Normierungsinstitut an die staatliche Kandare genommen werden. In das Leitungsgremium wollen Bund und Länder Vertreter entsenden, die dank ihres Vetorechts sämtliche Entscheidungen blockieren können. Der Rechnungshof erkannte sofort diesen Makel und merkte an, dass Austrian  Standards demnach künftig auch von ihm kontrolliert werden könne.

Für das neue Gesetz treten vor allem Architektenkammer und Bauwirtschaft ein. Austrian Standards hat sich mit den Beschwerden der Baugesellschaften auseinandergesetzt und ein gemeinsames Forum ins Leben gerufen. Oft seien es ja nicht die Normen, sondern Landesgesetze und Verordnungen, die das Bauen teurer machten, heißt es. Auch günstige Packages für Kleinunternehmen bietet man mittlerweile an. So können etwa für 200 Euro 200 Normeninhalte abgerufen werden.

Im Wirtschaftsministerium will man am Gesetz festhalten, man werde wie in allen solchen Fällen die Änderungswünsche diskutieren, plane aber weiterhin, dass das Normungsgesetz 2015 am 1. Jänner 2016 in Kraft tritt. Gesetz hin oder her: An der lästigsten Nichtnorm wird sich weiterhin nichts ändern. „Jeden Sommer bekomme ich Anrufe, warum es keine Norm für Steckdosen in Europa gibt“, klagt ein zuständiger Beamter, „es gibt zwar einige Normen, und alle sind sicher – aber alle sind anders.“

Dieser Artikel stammt aus der Österreich-Ausgabe der ZEIT, Nr. 33 vom 13.08.2015.