Altgediente Wirtschaftskapitäne erinnern sich: Gerd Millmann hat skurrile bis brisante Anekdoten in einem Buch versammelt.

Von Gerd Millmann

Erschienen in DIE ZEIT, Nr. 45/2015 vom 5. 11. 2015

Merkwürdig, wie episodisch Zeitgeschichte wird, wenn die Großen zwanglos darauflosplaudern. Franz Vranitzky zum Beispiel war stellvertretender Generaldirektor der Creditanstalt und designierter Chef der Traditionsbank. Bis zum Weltspartag 1980. Damals führte der spätere Bundeskanzler den FPÖ-Klubobmann Friedrich Peter durch eine Münzausstellung, als sein Gast plötzlich meinte: „Es ist interessant, wie Sie sich hier noch so ins Zeug werfen.“ Vranitzky darauf: „Wieso, ich arbeite ja hier.“ – „Aber nicht mehr lange“, erwiderte Peter. „Das kann nicht stimmen“, entgegnete Vranitzky. „Wer hat das beschlossen?“ – „Na, Ihr Parteivorstand und die Bundesregierung.“

Tatsächlich suchte Kanzler Bruno Kreisky einen Ausweichposten für Finanzminister Hannes Androsch, mit dem er sich überworfen hatte – und das war der Job des CA-Generaldirektors. Also musste Vranitzky in die Länderbank wechseln – nur gesagt hatte ihm das niemand. Wenn Ex-Wirtschaftskapitäne aus dem Nähkästchen plaudern, tun sich wunderbare Anekdoten auf. Es sind oft die kleinen Geschichten hinter der Geschichte, welche die Wirtschaftshistorie Österreichs begreiflich machen.

Die zum Teil skurril anmutenden Highlights aus dem Erfahrungsschatz heimischer Industrieller werfen ein erhellendes Licht auf den völlig anderen wirtschaftspolitischen Planeten Österreich vor dem EU-Beitritt 1995. Der ehemalige ÖIAG-Generaldirektor Karl Hollweger berichtet, dass er die Wette gewann, eine Vollversammlung in weniger als drei Minuten abzuhandeln. RHI-Vorstand Franz Struzl erinnert sich, dass er mit folgender Begründung nicht in den Vorstand der Voest kam: „Sie sind körperlich zu klein.“ Andere Erzählungen regen zum Nachdenken an. Beppo Mauhart erinnert sich an die umstrittene Privatisierung der Austria Tabak im Jahr 2001. Die Unterlagen der ÖIAG dazu seien aus Platzgründen „entsorgt“ worden.

Ex-Notenbanker Heinz Kienzl erzählt, dass Österreichs Annäherung an die EG nicht so sehr an den Gewerkschaften gescheitert war. Vielmehr sei Kanzler Kreisky der Überzeugung gewesen, dass die Sowjets das nicht zulassen würden. Auf Kienzls Frage, warum er denn das nicht so sage, meinte Kreisky: „Eher beiße ich mir die Zunge ab, als zuzugeben, dass Österreich nur ein halb souveräner Staat ist.“ In jedem Fall war Österreich ein überaus geregeltes Staatsgebilde. In der Papierindustrie war die Produktion bis Mitte der neunziger Jahre zentral aufgeteilt. Der Brotpreis war reglementiert, ein staatliches Zweigstellenabkommen legte den Standort von Bankfilialen fest. Jedes Jahr wurden im Finanzministerium Kfz-Haftpflichtversicherungsprämien ausverhandelt und die Zinsen für Sparbücher im berüchtigten Lombardclub besprochen, um sie niedrig zu halten – wenn es denn funktioniert hätte. „Man hat sich getroffen und über Konditionen geredet“, sagt der langjährige Nationalbankdirektor Adolf Wala. „Aber dann hat sich niemand an die Empfehlungen gehalten. Materiell war es also ein Club der Meineidbauern und nicht wirklich ein Kartell.“ Dennoch verurteilte die EU-Kommission 2002 die beteiligten Banken zu Geldstrafen.

Da die ÖVP nicht auf Privilegien verzichten wollte, kaufte die Bank Austria die CA

Österreichs Wirtschaft und Industrie ist historisch eng mit dem Bankwesen verknüpft. Zum einen waren Banken selbst Eigentümer großer Unternehmen, zum anderen wird die Wirtschaft bis heute zu 80 Prozent von Bankkrediten finanziert.

Als 1997 die rote Bank Austria um umgerechnet 1,25 Milliarden Euro die schwarze CA übernahm, empfand das der damalige ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel als Vertrauensbruch. Letztlich führte dieses Ereignis zur schwarz-blauen Koalition im Jahr 2.000. Eine andere Lösung sei aber an der bürgerlichen Seite gescheitert, sagt Walter Rothensteiner, damals im Vorstand der RZB. Raiffeisen und die Erste Bank hatten unter Mitwirkung der ÖVP als Käufer abgewunken. Dann kam die schweizerische Credit Suisse ins Spiel. „Mir hätte diese Lösung gut gefallen“, erinnert sich der damalige Finanzminister Ferdinand Lacina. Aber nicht der ÖVP, erklärt Willibald Cernko, der im Vorstand der Bank Austria saß: „In der CA gab es im Vorstand politische Besetzungen. Da hatte die Industriellenvereinigung ein Vorschlagsrecht, da hatte die Wirtschaftskammer Wien ein Vorschlagsrecht und so weiter. Diese Einflusssphären ans Ausland gehen zu lassen war ein absolutes No-go.“

So witterte Bank-Austria-Chef Gerhard Randa seine Chance. „In einem Schwechater Wirtshaus hat er mich gefragt, was ich dazu sagte, wenn die Bank Austria die CA übernehmen würde“, erinnert sich der damalige Kanzler Vranitzky. „Ich meinte, ich habe alles dagegen, denn das ist eine innenpolitische Lawine, eine Bombe, das geht nicht.“

Nun zog sich alles in die Länge. Schließlich, so Vranitzky, sei Randa wieder gekommen. „Ich kaufe die Bank, hat er gesagt. Und weil es sonst niemanden gegeben hat, meinte ich, na bitte schön.“ Jedenfalls war das für Wolfgang Schüssel der Anfang vom Ende der großen Koalition. Viktor Klima war damals Finanzminister. „Ich habe Schüssel die ganze Geschichte noch einmal aufgerollt und festgestellt: Das ist zustande gekommen, weil eure Seite das Geld nicht aufgebracht hat.“

Bei der „Eroberung“ des ost- und mitteleuropäischen Raums nach dem Fall des Eisernen Vorhangs genoss Österreich in den ehemaligen Ländern der Habsburgermonarchie einen Vertrauensvorschuss. Wenn es in anderen Regionen einmal zu Problemen kam, half eine Portion Schlitzohrigkeit. 2006 hatten EU und USA wegen des iranischen Atomprogramms weitreichende Wirtschaftssanktionen gegen den Staat der Mullahs erlassen. Als einer der wenigen Investoren im Iran fand der CEO des Papiererzeugers Mayr-Melnhof, Wilhelm Hörmanseder, aber einen Weg, den Boykott zu umgehen. Und das völlig legal: „Aus dem Iran heraus ist der Swift-Code gesperrt, wir haben aber die Genehmigung der Nationalbank, Geld herzubringen, da wir ja keine Handelsfinanzierungen machen, sondern Investitionsfinanzierungen. Ein Dokument der ÖNB verbrieft uns, dass wir die Rückzahlungen in Euro bekommen dürfen“, so der CEO. Weiter ins Detail will er nicht gehen. „Ein gelernter Österreicher findet einen legalen Weg.“

Bruno Kreisky und heimische Banken brachten den Schilling gehörig unter Druck

Apropos legaler Weg: 1988 erließ Verkehrsminister Rudolf Streicher nach heftigen Anrainerbeschwerden ein Nachtfahrverbot auf der Inntalautobahn. Ausgenommen davon waren nur sogenannte Flüster-Lkw. Die halbe europäische Güterverkehrssparte war in Aufruhr. Vor allem die erfolgsverwöhnten Mercedes-Lkw konnten die niedrigen Lärmwerte nicht erreichen, und der Konzern leistete sich eine peinliche Schummel-Volte. Der Vorstand lud Streicher zur Lärmmessung auf den Innsbrucker Flughafen. Tatsächlich blieb der Mercedes-Truck dabei unter der gesetzlichen Norm. „Allerdings ging der Fahrer auf der Höhe der Messpunkte vom Gas und fuhr im leisen Leerlauf vorbei. Es wurde im Prinzip nur der von den Reifen verursachte Lärm erfasst“, blickt Streicher auf diese deutsche Mogelpackung zurück. Der Verkehrsminister verordnete einen neuen Test, kein Mercedes-Lkw schaffte das Flüster-Siegel, und der Konzern musste seine Lkw-Flotte lärmdämmend umrüsten.

Adolf Wala war von 1988 bis 1998 Generaldirektor der Nationalbank. Mit Grauen erinnert er sich an ein Interview Kreiskys in der FAZ, in dem dieser 1977 heftige Zweifel an der Fähigkeit Österreichs ausdrückte, die Bindung an die starke D-Mark aufrechtzuerhalten. „Als Marktreaktion darauf haben wir ein Drittel unserer Währungsreserven verloren. Die ausländischen Banker haben natürlich gedacht: Wenn sogar der Bundeskanzler das sagt, wird schon etwas dahinterstecken. Innerhalb von zwei oder drei Tagen sind weitere vier bis sechs Milliarden an Währungsreserven abgeflossen.“ Doch die Österreichische Nationalbank hielt mithilfe anderer Banken erfolgreich dagegen.

Weit brenzliger, erzählt Wala, sei die Spekulation heimischer Banken gegen die eigene Währung gewesen. 1988 zum Beispiel. „Da hatten wir plötzlich Milliardenabflüsse, weil eine US-amerikanische Bank mit der CA gemeinsam gegen den Schilling spekulierte. Das war eine unglaublich heikle Situation. Wir haben später erfahren, dass die amerikanischen Analysten die Senkung der Lohnstückkosten als Negativszenario für die österreichische Wirtschaft missverstanden hatten. Dabei war diese Kennzahl doch eine Verbesserung.“ Auch diese Krise konnte diskret gelöst werden, sodass kaum etwas davon an die Öffentlichkeit gelangte. „Wir haben diese Spekulation mithilfe unserer Filiale in den USA und einiger Banken, die uns unterstützt haben, beendet“, erzählt Wala. „Wir hatten Devisen im Pensionsfonds, konnten diese in den Reservenbestand der Bank tauschen und nach der Spekulation wieder zurücktauschen. Das Ganze ist innerhalb einer Woche wieder zusammengebrochen.“

Noch immer beschleunigt sich Walas Puls, wenn er an damals zurückdenkt. Heute arbeitet der Notenbanker als staatlicher Bankenabwickler. Wie die meisten Ex-Bosse hält er immer noch Fäden im heimischen Wirtschaftsleben in der Hand.

Der Autor hat mit Herbert Cordt und Helmut Kramer ein Buch über österreichische Industrielle veröffentlicht: Auf der Überholspur; Molden, Wien, 2015, 324 S., 34,90 €

Dieser Artikel stammt aus der Österreich-Ausgabe der ZEIT, Nr. 45 vom 5.11.2015.