In zehn Jahren laufen österreichweit Tausende alte Pachtverträge aus. Bislang wird das Problem von der Politik ignoriert

Von Gerd Millmann

Erschienen in DIE ZEIT Ausgabe 11/2008 vom 6. März 2008.

Perchtoldsdorf ist eine der reichsten Gemeinden Österreichs. Mitten im Speckgürtel rund um die Hauptstadt hat sich der Wohlstand angesiedelt. Scharfe Tempokontrollen sorgen dafür, dass die Idylle nicht von ortsfremden Rasern gestört wird. Armut und Hunger sind hier Fremdworte.

Das war nicht immer so. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Perchtoldsdorf ein bescheidener Agrarort. Ohne Genehmigung hatten Hunderte Familien aus dem Wiener Proletariat das unbebaute Land besetzt. Die Zuwanderer sicherten sich ihre Existenz durch den Anbau von Gemüse und Erdäpfeln. »Vor allem während der Hungerjahre des Ersten Weltkriegs kam es zu diesen spontanen Landbesetzungen«, schildert der Historiker Robert Hoffmann von der Universität Salzburg. Solche »wilden Siedler«, die aus Verzweiflung Brachland in Besitz nahmen, gab es damals auch rund um die Ballungsräume Graz, Linz und Salzburg. Bretterverschläge dienten den Familien als Unterkünfte. Rund um Wien waren sogar der Lainzer Tiergarten, verschiedene Fußballplätze und Teile des Praters okkupiert worden: ein ernstes Problem für die 1918 neu konstituierte Republik.

Die Machthaber griffen auf ein damals sehr beliebtes Mittel zurück um dieses Chaos zu ordnen: Pachtverträge mit extrem niedrigem Zins, abgeschlossen auf 99 Jahre. Diese Dauer war damals für Langzeitverträge das Maß der Dinge. Nicht nur Kleingärten, sondern auch viele Sport- und Kulturvereine erhielten im Jahr 1919 solche günstigen Verträge. Fast hundert Jahre: Das schien damals wie eine Ewigkeit. In zehn Jahren läuft die Frist jedoch ab. Wie es dann weitergeht, wissen weder die Pächter noch die Körperschaften, die den Grund bis heute besitzen.

»Ich habe auf dem Grund Tennisplätze und ein Fitnesscenter errichtet«, sagt der Pächter eines Grundstückes im Raum Linz. Er ist unsicher, ob er für die Renovierung Geld investieren soll. »Wer weiß, was in zehn Jahren passiert? Vielleicht kann ich mir dann die neue Pacht gar nicht mehr leisten.« Er ist vor 15 Jahren in einen 99-Jahres-Pachtvertrag der Stadt mit einem Sportverein eingetreten und will seinen Namen nicht in einer Zeitung sehen. »Die Stadt als Verpächter will ich gar nicht sekkieren. Die hat ja keine Schuld daran.« Wie hoch die Pacht in zehn Jahren sein wird, kann ihm die Körperschaft aber nicht sagen. Und wenn sie es täte, hätte ihr Wort heute kaum Gewicht: Denn möglich wäre es, dass die Zinshöhen in den nächsten zehn Jahren mit einfachen Gemeinderatsbeschlüssen neu festgelegt werden.

Auch die 54-jährige Anna Kralik aus Linz fürchtet um ihr günstiges Grundstück, auf dem ein Einfamilienhaus mit Garten steht. Ihr Urgroßvater hat den Vertrag vor 89 Jahren abgeschlossen, im Jahr 2018 läuft er aus. Viele ihrer Nachbarn sind aus den Pachtverträgen ausgestiegen, als sich die Gelegenheit dazu bot: Sie haben nach dem Zweiten Weltkrieg Kaufoptionen von der Gemeinde angenommen. Kraliks Familie tat das nicht, schließlich war und ist die Pacht enorm niedrig. Nun fürchtet die Frau um ihre Sonderregelung. »Ich weiß, dass manche darauf neidisch sind. Aber hätte ich sagen sollen, ich will mehr bezahlen?«

»Wir wollen in Niederösterreich keine schlafenden Hunde wecken«

Wie viele Pächter insgesamt betroffen sind, ist nicht bekannt. Keine der Körperschaften hat einen Überblick über die Anzahl der laufenden 99-Jahres-Pachtverträge. Schätzungen gehen von mehreren Tausend Verträgen aus. Viele davon sind während des Zweiten Weltkriegs geändert und nach 1945 einfach übernommen worden. »Wir haben hier Verträge, die mit ›Heil Hitler‹ enden«, sagt etwa der stellvertretende Leiter des Wiener Sportamtes, Alexander Zimmermann, der einige Beispiele für die vermeintlichen Langzeit-Pachtverträge nennen kann. Einer davon ist der Wiener Arbeiterschwimmerverein (ASV). Er hat 1919 das Strandbad an der oberen Alten Donau auf 99 Jahre gepachtet. Der chronisch finanzknappe Sportverein ist jedoch in einer glücklichen Lage: Selbst heute verlangt die Stadt von Sportvereinen einen jährlichen Pachtzins zwischen zwei Cent und zehn Euro pro Quadratmeter: Preise, die weit unter dem Marktwert liegen. Viele der Sportvereine werden wohl ihre Pachtverträge verlängert bekommen. Was aber, wenn die Gemeinde ein Auge auf das verpachtete Grundstück geworfen hat?

»Dann sieht es schlecht für den Pächter aus«, sagt ein Jurist der niederösterreichischen Landesverwaltung und zuckt mit den Schultern. Dabei könnten das Parlament oder die Landtage die unsichere Lage mit neuen Gesetzen ein für alle Mal regeln: Alle 99-Jahres-Pachtverträge könnten unbefristet verlängert werden. »Aber in Niederösterreich will man keine schlafenden Hunde wecken«, sagt der Jurist, »also bleibt alles an den Gemeinden hängen, die sich bei jeder Entscheidung schwertun werden.« Der Jurist selbst ist SPÖ-Gemeinderat im Weinviertel. Wie seine Gemeinde das Problem in zehn Jahren angehen wird, sei noch nicht einmal diskutiert worden.

In Perchtoldsdorf indes ist das Problem bereits vor mehr als 30 Jahren gelöst worden. Sämtliche Pächter kauften ihre Grundstücke zu günstigen Bedingungen von der Gemeinde. In vielen Dörfern und Städten wird das Erwachen wohl erst 2018 kommen. Anna Kralik hofft auf eine typisch österreichische Lösung: »Vielleicht vergisst die Stadt einfach darauf, dass mein Vertrag ausläuft. Dann zahle ich einfach weiter die Pacht wie bisher.«

Dieser Artikel stammt aus DIE ZEIT,  Österreich Ausgabe 11/2008 vom 6. März 2008.

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